2005 ROMANIK

2005 - Reisende aus und nach ...

Romanik-Tour 2005
Ouvertüre Wassermusik – Händel
Liebe Konzertbesucher,
wir sind das Rossini-Quartett aus Magdeburg mit unseren Gästen.

Wir möchten Sie heute zu einer musikalisch-literarischen Entdeckungsreise einladen. Sie alle sind gerade durch Sachsen-Anhalt gereist, zumindest bis hierher an die Straße der Romanik. Wir wollen nun einigen historischen Persönlichkeiten folgen, die aus Sachsen-Anhalt stammen und von hier aus ihre Reisen unternahmen. Und wir begegnen anderen, die hierher kamen, und deren Reisen Spuren in der Kunst- und Kulturgeschichte hinterlassen haben.
Soeben hörten sie eines der wohl berühmtesten Musikstücke von Georg Friedrich Händel. Der Hallenser war, wie jeder, der der Welt etwas zu geben hat, ein großer Reisender. 21-jährig reiste er 1706 für drei Jahre nach Italien und trat 1711 in die Dienste des Hannoverschen Kurfürsten. Im selben Jahr erreicht ihn eine Einladung an das „Queen’s Theatre of the Haymarket“ nach London, wo er seine Oper „Rinaldo“ aufführte. Dort hatte er soviel Erfolg, dass er von seinem Dienst als Hofkapellmeister in Hannover desertierte und dem Kurfürsten nur einen sehr kurzen Abschiedsbrief hinterließ. Bereits 1712 ließ er sich endgültig in London nieder, und er erhielt von der damaligen Queen Anne eine lebenslange Jahrespension von 200 Pfund. Am 1. August 1714 stirbt die Queen. Ihr Nachfolger wird – für Händel sehr peinlich – ausgerechnet dessen früherer Dienstherr, der Kurfürst aus Hannover, der als King George I. den britischen Thron besteigt.
Händels Wassermusik, von der Sie eben die Ouvertüre hörten, entstand anlässlich einer Bootsfahrt auf der Themse, die König George I., am 22. August 1715 unternahm.
„Man schlug dem Könige eine Lustfahrt zu Wasser vor“, steht in einem Bericht von 1760, „Händel bekam Wind davon und wurde Raths, eine geschickte Musik zu dem Ende anzustellen. Er selbst vollzog und führte sie auf, ohne dass es der König wusste, der sich aber darüber sowohl verwunderte als ergetzte.“
Auf dieser Fahrt kam es zur legendären Versöhnung Händels mit dem König. Er ließ die Musik zweimal wiederholen und zu zwei weiteren Bootsfahrten entstanden weitere Teile der Wassermusik.

Geliebt und gerühmt wurde Händel seinerzeit wie heute vor allem auch wegen seiner Opern und Oratorien: Begrüßen Sie die Mezzosopranistin Undine Dreißig und den Trompeter Tilman Schneider mit einer Arie aus der Friedensode von Georg Friedrich Händel.

Händelarie

In Buttelstedt bei Weimar wurde 1688 Johann Friedrich Fasch geboren. Bereits 12-jährig begann er zu reisen. Nach dem Tode des Vaters 1700 kam er nach Weißenfels, wurde Chorknabe und erhielt an der damals berühmten Hofkapelle dort eine erste Musikausbildung. Er wurde Thomasschüler in Leipzig und unternahm 1713 bis 1715 seine musikalische Gesellenreise durch Süd- und Westdeutschland.
Fasch war übrigens erster Konkurrent Johann Sebastian Bachs 1722 um die Stelle des Thomaskantors in Leipzig, wurde diesem vorgezogen, schlug aber aus und ging als Hofkapellmeister nach Zerbst. An dem kleinen anhaltinischen Fürstenhofe lebte er zwar nicht gerade fürstlich, aber er blieb dort bis zu seinem Tode 1758. Statt seiner selbst war es nun seine Musik, die große Reisen durch ganz Europa unternahm und überall höchst geschätzt wurde.
Hören Sie nun den ersten Satz aus dem Trompetenkonzert D-Dur von Johann Friedrich Fasch.

Trompetenkonzert Fasch

In Poserna bei Weißenfels wurde 1763 ein Knabe geboren, der das Reisen zu seinem Beruf machen sollte, Johann Gottfried Seume. Er war:
Bauernsohn,
widerwilliger Theologie-Student,
unfreiwilliger hessisch/englischer Soldat in Amerika,
gepresster Hauslehrer im preußischen Ostfriesland,
erfolgreicher Student in Leipzig,
Leutnant in russischen Diensten,
polnischer Kriegsgefangener,
Lektor bei Göschen in Grimma,
enttäuschter Liebhaber,
Dichter und Übersetzer und
überzeugter Wanderer. Und aus seinen Wanderungen hat er Literatur gemacht. Er war der erste deutsche Reiseschriftsteller.

Sein berühmtestes und bis heute sehr lehrreiches Reisebuch ist der
„Spaziergang nach Syracus“, den er 1803 von Leipzig aus unternahm.
Im Vorwort schreibt er:

Es ist eine sehr alte Bemerkung, dass fast jeder Schriftsteller in seinen Büchern nur sein Ich schreibt. Das kann nicht anders sein, und soll wohl nicht anders sein; wenn sich nur jeder vorher in gutes Licht und reine Stimmung setzt. Ich bin mir bewusst, dass ich lieber das Gute sehe und mich darüber freue, als das Böse finde und darüber zürne: aber die Freude bleibt still, und der Zorn wird laut.

In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geleugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend Mal wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise für Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden, und beginnen, die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurteil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bei den Tatsachen als Belege sein, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde. Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen.

Die Sache hat allerdings ihre Schwierigkeit. Wagt man sich an ein altes Vorurteil des Kultus, so ist man noch jetzt ein Gottloser; sondiert man etwas näher ein politisches und spricht über Malversationen (Verschlimmerungen), so wird man stracks unter die unruhigen Köpfe gesetzt: und beides weiß man sodann sehr leicht mit Bösewicht synonym zu machen. Wer den Stempel hat, schlägt die Münze. Wer für sich noch etwas hofft oder fürchtet, darf die Fühlhörner nicht aus seiner Schale hervorbringen. Man sollte nie sagen, die Fürsten oder ihre Minister sind schlecht, wie man es so oft hört und liest; sondern, hier handelt dieser Fürst ungerecht, widersprechend, grausam; und hier handelt dieser Minister als isolierter Plusmacher und Volkspeiniger. Dergleichen Personalitäten sind notwendige heilsame Wagstücke für die Menschheit, und wenn sie von allen Regierungen als Pasquille (Schmähschrift) gebrandmarkt würden. Das Ganze besteht nur aus Personalitäten, guten und schlechten. Die Sklaven haben Tyrannen gemacht, der Blödsinn und der Eigennutz haben die Privilegien erschaffen, und Schwachheit und Leidenschaft verewigen beides. Sobald die Könige den Mut haben werden, sich zur allgemeinen Gerechtigkeit zu erheben, werden sie ihre eigene Sicherheit gründen und das Glück ihrer Völker durch Freiheit notwendig machen. Aber dazu gehört mehr als Schlachten gewinnen. Bis dahin wird und muss es jedem rechtschaffenen Manne von Sinn und Entschlossenheit erlaubt sein, zu glauben und zu sagen, dass alter Sauerteig alter Sauerteig sei.

Man findet es vielleicht sonderbar, dass ein Mann, der zwei Mal gegen die Freiheit zu Felde zog, einen solchen Ton führt. Die Enträtselung wäre nicht schwer. Das Schicksal hat mich gestoßen. Ich bin nicht hartnäckig genug, meine eigene Meinung stürmisch gegen Millionen durchsetzen zu wollen: aber ich habe Selbstständigkeit genug, sie vor Millionen und ihren Ersten und Letzten nicht zu verleugnen.



Übrigens bin ich nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen, auch nicht absichtlich, um das Unwesen der Möncherei zu sehen, sondern um den Theokrit zu studieren…“Menuett von Boccerini
Dieses zauberhafte Musikstück komponierte ein italienischer Zeitgenosse, dessen Reisen ihn in die umgekehrte Richtung führten, von Italien an den Hof des Alten Fritzen durch Sachsen-Anhalt nach Preußen, Luigi Boccerini.
Ein etwas älterer Zeitgenosse unserer Reisenden hatte bereits in den 40-er Jahren des 18. Jahrhunderts von Prag und Wien kommend, Italien bereist. Er kam zwar nicht, wie Seume später, „den Theokrit zu studieren“, sondern schon „um Kabinette und Galerien zu sehen“, vor allem aber die Musik zu studieren. Das tat er so gründlich, dass man ihn zum Ritter schlug – er erhielt den Päpstlichen Ritterorden am Bande.
Hören sie nun als Beispiel der damals typischen und vorherrschenden italienischen Operntradition die Arie „Se cerca“ aus der Oper „Olimpia“ von Leonardo Leo.

Arie „Se cerca“
Aber der Schüler wuchs über seine Lehrer hinaus. Gluck reformierte die Oper und trat dabei den Verfechtern des alten italienischen Opernideals gehörig auf die Füße. Der Streit entflammte in Paris. Hier hatte er von seiner ehemaligen Gesangsschülerin Marie-Antoinette, seit 1772 Gemahlin des Königs Ludwig XVI und mit ihm 1793 von den Französischen Revolutionären geköpft, einen Auftrag über sechs Opern erhalten. Um diese Opern gab es in ganz Paris fast einen richtigen Krieg, in dem es um die Abfolge von Rezitativ und Arie, aber auch um die Gesangsartistik auf der einen und dramatische und emotionale Wahrhaftigkeit auf der anderen Seite ging. Gluck erlitt einen Herzinfarkt und reiste nach Wien ab. Seine Reformopern aber setzten sich schließlich durch. „Iphigenie auf Tauris“ war die fünfte dieser Serie und wurde am 18. Mai 1779 mit großem Erfolg in Paris aufgeführt.

Hören Sie nun Undine Dreißig mit einer Arie aus dieser Oper
Arie aus „Iphigénie en Tauride“

Auch die „Iphigenie“ hat ihre sachsen-anhaltische Geschichte.
Im Jahre 1802 wurde am 26. Juni in Bad Lauchstädt ein Theaterneubau eröffnet. Seit 1791 spielte in dem damaligen Modebad bei Halle regelmäßig im Sommer das Weimarer Hoftheater, und mit ihm kam Goethe nach Lauchstädt. Nach dessen jahrelangem Insistieren löste ein Neubau die alte Theaterscheune ab, in der, wie Goethe beklagt hatte, bei Regenwetter die Zuschauer nass wurden und die Männergarderobe überhaupt nicht zu benutzen war. Andererseits spielte das Hoftheater „in 40 Lauchstädter Sommeraufführungen ebensoviel ein wie in der ganzen Wintersaison mit 100 Vorstellungen in Weimar“. Goethe drängte also auf den Neubau, und der wurde nach seinen Vorstellungen durch den Berliner Architekten Heinrich Gentz errichtet. Zur Eröffnung wurde Mozarts Oper „Titus“ gegeben. 106 Jahre später aber, als nach einer bemerkenswerten Rettungsaktion gegen den Willen des Kaisers das im 19. Jahrhundert völlig vernachlässigte, ruinierte Theater 1908 renoviert und wieder eröffnet wurde, spielte man Goethes „Iphigenie“.
Die Bürger hatten gegen die Abrisspläne des Hofes heftig protestiert, sie als „Schande gegen ein nationales Kulturheiligtum“ gebrandmarkt, bis die Sächsische Regierung die Immobilie übernahm und instand setzen ließ.
Schiller schrieb 1789 in einem Aufsatz über „Iphigenie“:

Als der berühmte Verfasser mit seinem „Götz von Berlichingen“ zum ersten Mal in der literarischen Welt auftrat, widerfuhr ihm von dem großen Haufen seiner Kritiker, was jedem Schriftsteller, der sich auf eine außerordentliche Art ankündigt, von dem Haufen gewöhnlich widerfährt. Aus seinem ersten Produkte wies man ihm sein Fach an, man zog daraus den Schluss auf alle folgenden, man setzte seinem Genie Regel und Grenze.
Seine damals noch mutwilligere Phantasie hatte die Schranken der Regel zu eng gefunden und übertreten; daraus wurde gefolgert, dass dieser Schriftsteller sich Shakespeare zum Muster gewählt und aller Kritik den tödlichsten Hass geschworen habe; und alle die engen Köpfe, die sich nicht anders als nach der Regel interessieren und vergnügen lassen, triumphierten im Stillen, dass sie dadurch überhoben würden, Gerecht gegen sein Genie zu sein. An dieser Klasse von Lesern hätte der Verfasser schwerlich eine ehrenvollere und schönere Rache nehmen können als durch gegenwärtiges Stück, das zum lebendigsten Beweise dient, wie groß sein schöpferischer Geist auch im größten Zwange der Regel bleibt, ja wie er diesen Zwang selbst zu einer neuen Quelle des Schönen zu verarbeiten versteht.

Das Publikum freilich war im 19. Jahrhundert noch nicht bereit, Goethes geniale Schönheit wirklich zu lieben. Die antike Sage der Iphigenie auf Tauris war in der Fassung populär, die Gluck mit dem Text von Nicolaus Francoise Guillard nach dem Drama Guymond de la Touches komponiert hat.

Aber lassen Sie uns weiterreisen: Nach Magdeburg zu Telemann und Schütze.

Telemann-Sonate zwei Sätze

Telemann ist heute jedem Musikfreund bekannt. Das ist aber erst seit den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder so. Im 19. Jahrhundert hatte man ihn vergessen.
Magdeburg hat noch einen anderen „vergessenen“ Künstler hervorgebracht, den Dichter Johann Stephan Schütze. Er wurde 1771 im Bauerndorf Olvenstedt geboren, war aber schwach und kränklich und eignete sich nicht zum Hoferben der Schützes. Aber ein anderes Talent zeigte sich sehr früh. Schon als Neunjähriger schrieb der aufgeweckte Junge kleine Prosastücke und später, zur Freude der Dorfgemeinde, Hochzeits- und Scherzgedichte, Rätsel und, für seine Schulkameraden in der Olvenstedter Dorfschule, jeden Sonnabend eine kleine Predigt. Sein Vater gab ihn in die Domschule zu Magdeburg und später besuchte er das berühmte Pädagogium im Kloster Berge vor den Toren Magdeburgs.
Mit einem Jahressalär von 600 Talern, das ihm sein wohlhabender Onkel Christian ausgeschrieben hatte, konnte er den schönen Beruf des freischaffenden Schriftstellers ergreifen, ging 1804 nach Weimar und gehörte zum Freundeskreis Goethes.
Er suchte freilich auch mit seiner Dichtkunst einige Einnahmen
zu erwirtschaften z. B. mit dem Gedicht „Dorfruinen“. Im Sommer 1796 war das Dorf Snarsleben abgebrannt, ein Dorf, aus dem Stephan Schützes Vater stammte.
Im Untertitel zu dem Gedicht heißt es:
Ein Gedicht, welches für das eingeäscherte Dorf Snarsleben um Hülfe fleht (Wird zum Besten der Abgebrannten verkauft für vier Groschen).

Du gehst hinaus und siehst die Saat des Landmanns grünen,
Und schaust im Ährenfeld den Reichtum der Natur,
So komm und sieh nun auch in Schutt und in Ruin
Die Sorge eines Jahrs, den Segen einer Flur.

Daß reichlich ihm die Saat zur Ernte Früchte trüge,
dies war sein Wunsch; ihm ward, was hoffend er begehrt,
Daß ihm die Halmen nicht ein Hagelschlag zerschlüge,
Das war sein Flehn; es ward sein Bitten ihm gewährt.

Rührt dich, o Städter, schon so manche Trauerscene
Durch Künstler dargestellt, zum sanften Mitgefühl,
So komm denn auch und sieh! Und weine eine Thräne,
Durch wahre Noth gerührt, dem großen Trauerspiel.

So hilf und laß nicht den Armen trostlos bitten,
Im nahen Dorfe währt sein Obdach kurze Zeit,
Der Winter bricht herein, es geben Bretterhütten,
Auf Trümmer schnell erbaut, nur bange Sicherheit.

Umsonst hat dich noch nie ein Leidender gebeten,
Beim Becherklange dringt sein leiser Seufzer durch;
Berühmt im Wohltun ist ja unter vielen Städten
Schon längst, o Menschenfreund, durch dich dein Magdeburg.

Wieviel Erfolg die Benefizaktion hatte, ist allerdings nicht überliefert.
In jüngerer Zeit erinnert man sich wieder des vergessenen Dichters. Reinhard Seehafer hat dieses und andere Gedichte zu einem Liederzyklus „Die Musenhauptstadt“ zusammengestellt, vertont und dem 1200-jährigen Magdeburg gewidmet.

„Musenhauptstadt“
Schütze wurde von Goethe geschätzt, aber nicht nur wegen seiner Dichtkunst, sondern auch weil er in der intellektuellen Stubenhockergesellschaft von Weimar zum Initiator regelmäßiger Landpartien wurde. Mit den sonntäglichen Ausfahrten in die umliegenden Dörfer schien sich die Reiselust Johann Stephan Schützes schon zu erschöpfen. Er schrieb ein Gedicht
„Für Nichtreisende“

Da klimmt er fort, den steilsten Berg hinan,
Dass er die Gegend ganz genieße,
Und endlich hingestreckt – was fühlt der Wandersmann?
Die Gegend – Glaub’ es nicht, die Müdigkeit der Füße! –
Wie bist Du doch um Vieles besser dran!
Du tust nicht einen Schritt, Du lässt es Dir beschreiben,
Kannst ganz bequem im Sessel bleiben,
Und siehst, was er gesehen, im Reiz des schönsten Lichts;
Von müden Beinen fühlst du nichts!

Marsch aus der „Wassermusik“

Wenn Sie hier vielleicht auch nicht ganz so bequem im Sessel sitzen, so wollen wir mit Ihnen aber doch der Empfehlung Schützes ein wenig Folge leisten und gleichzeitig einem anderen Dichter unsere Referenz erweisen, dessen 200. Geburtstag wir am 4. April dieses Jahres begingen.

‎Der Morgen.
‎Es war ungefähr halb drei Uhr, als die Magd mich rief, um die Sonne aufgehen zu sehen; die meisten waren schon draußen, in Mäntel und Überzieher eingehüllt. Mit Tüchern um den Kopf gebunden stand die wunderlich bunte Menschengruppe aus höchst verschiedenen Orten da, alle mit einem Gedanken: „Jetzt geht die Sonne auf!“
‎Es war, als ob wir auf einer Insel ständen, denn die Wolken lagen tief unter uns, so weit wir sehen konnten, wie ein ungeheures, anschwellendes Meer, das sich mit einem Mal nicht mehr bewegen konnte. Kein Morgenrot zeigte sich an dem blauen Himmel über uns; die Sonne ging ohne Strahlen auf, wie eine große blutige Kugel; erst als sie über dem Horizonte war, strömte das klare Licht über das Wolkenmeer aus.
‎Unser alter Schulmeister stand mit gefalteten Händen da, sagte lange kein Wort, lächelte aber ganz zufrieden; endlich rief er aus: »Wenn ich doch Mütterchen und die Kinder hier hätte; - ja, die alte Anne (ihr Dienstmädchen), die würde sich bis in ihre innerste Seele freuen! Du lieber Gott, hier wäre ja Platz genug für sie alle zusammen. Das fällt mir doch jedes Mal ein, wenn ich so etwas recht Schönes sehe; hier wäre nun so schön Platz für so viele gute Freunde, wenn sie doch hier wären und es mit genießen könnten!«
‎Als die Sonne höher stieg, fingen die leichten Wolken immer mehr an zu verdampfen, der Äther sog sie gleichsam ein, während der Wind die schweren zwischen die Berge jagte, die jetzt wie Inseln aus dem großen Wolkenmeer hervorragten. Bald wurde alles immer klarer und klarer, wir sahen Städte und Kirchtürme, Felder und Wiesen wie die niedlichsten Miniaturgemälde um uns herum. Einen so herrlichen Morgen hatte man in diesem Jahr noch nicht auf dem Brocken gehabt. Wir sahen deutlich Magdeburg mit seinen Türmen, Halberstadt und Quedlinburg, die Türme der großen Domkirche zu Erfurt, die Bergschlösser der »Gleichen« und die Wilhelmshöhe bei Kassel, außerdem eine Menge kleiner Städte und Flecken. Ich kletterte auf den so genannten Hexenaltar und die zehn Fuß höhere Teufelskanzel hinauf, trank von dem eiskalten Wasser, das aus dem Hexenbrunnen quillt, bekam einen Brockenstrauß, den die Magd mir an die Mütze heftete, sagte den neuen Bekannten von hier oben Lebewohl und namentlich dem guten alten Schulmeister, dem die Gesellschaft hier so gut gefallen hatte, dass er mich und alle bat, sich erst in sein Stammbuch einzuschreiben, damit er den Seinen zu Hause all die fremden, guten Menschen zeigen könne, mit denen er hier zusammen gelebt; fast alle von uns schrieben sich ein, ich als einziger auf Dänisch, und dann trennten wir uns.

Diese Beschreibung stammt aus dem Buch „Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc. etc. im Sommer 1831“ von Hans Christian Andersen, der als Sechsundzwanzigjähriger damals seine erste Auslandsreise unternahm. Im Harz besuchte er neben dem Brocken, auch Blankenburg, die Burgruine Regenstein, die Rosstrappe, gegenüber den Hexentanzplatz und auch die Rübeländer Tropfsteinhöhlen. Hier und im Elbsandsteingebirge fand er jene Natureindrücke, die er später in seinen Märchen weltweit berühmt gemacht hat.
Folgen wir seinem Weg noch ins Mansfelder Land nach Eisleben. Hier war Martin Luther am 10. November 1483 als Sohn eines Bergmannes geboren worden. Andersen besucht Luthers Geburtshaus und widmet ihm ein Gedicht.



Zwischen freundlich grünen Hügeln
Ragt die kleine Stadt empor,
Lange Strahlen schickt die Sonne
Aus den Sommerwolken vor,
Scheinet auf die hohen Türme,
Deren Glocken festlich geh’n,
Überall in Sonntagskleidern
Die geputzten Menschen steh’n
Mönche mit Gesang und Fahnen
Ziehen ernsthaft aus der Stadt;
Sagt mir dieses Festgepränge,
Was es zu bedeuten hat?
Ha, da kamen ja zwei Herren,
Sie und ihr Gefolg’ zu Pferd’
Er, der Herzog und der Bischof
Haben heut’ die Stadt beehrt!
An der Mauer, vor den Toren,
Welch Gewühl, wie sich das drängt!
Männer, Weiber, hoch und niedrig,
Bunt sich durcheinander mengt!
Sieh, ein Bergmann und sein Weibchen
Steh’n auch mitten in der Schar,
Ander Hand ´nen hübschen Knaben
Mit gar schönem blondem Haar;
Fromm der Knab die Hände faltet,
Als die fremde Pracht er schaut:
Herzogs Schwert und Bischofs Mantel
Hat am meisten ihn erbaut.
Wunderbar wird’s ihm im Herzen,
Unstet schwebt sein Geist umher
Leut’ von jenseits hinter’n Bergen
Kamen, es zu sehen, her.
Zwischen freundlich grünen Hügeln
Ragt die kleine Stadt empor.
Lange Strahlen schickt die Sonne
Aus den Sommerwolken vor,
Scheinet auf die hohen Türme,
Aber ihre Glocken ruh’n,
Und kein Herzog oder Bischof
Halten ihren Einzug nun.
Wunderbar fühlt augenblicklich
Alles Herzleid man vergeh’n.
Was will ich, was wollen andre
Denn in diesem Städtchen seh’n?
„Herzogs Schwert und Bischofs Mantel“,
Die sind längst zu Staub verweht,
Doch wir pilgern zu der Stätte,
Wo ein ärmlich Häuschen steht.
Eng und niedrig ist die Gasse,
Tiefe Stille drüber schwebt,
Wo der Knabe ist geboren,
Wo der Bergmann drin gelebt.
- Fürst und Bischof sind vergessen,
Längst verfielen Wall und Tor;
Steht man an dem kleinen Hause,
Richtet alles sich empor.

Bourreè aus Händels Wassermusik

Fast anderthalb Jahrhunderte später wurde in Gräfenhainichen als Sohn des Bürgermeisters Christian Gerhardt am 12. März 1607 Paul Gerhardt geboren. Er hat auf seine Weise auch ein Stück Reformationsgeschichte geschrieben. Er studierte inmitten des 30-jährigen Krieges in Wittenberg Theologie, wurde später Lutherianischer Probst in Mittenwalde, Berlin und Lübben. Und er war ein Dichter, dessen Werke buchstäblich in aller Munde waren.
Von ihm stammt der Text eines der bekanntesten Choräle, die bis heute die Christen in aller Welt und aller Konfessionen singen. Viele Komponisten haben Musik zu diesen Worten komponiert, auch Telemann.

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zum Spott gebunden
Mit einer Dornenkron’,
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr’ und Zier,
Jetzt aber höchst schimpfieret;
Gegrüßet sei’st du mir!

Du edles Angesichte,
Davor sonst schrickt und scheut
Das große Weltgewichte,
Wie bist du so bespeit!
Wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,
So schändlich zugericht’t?

Die Farbe deiner Wangen,
Der roten Lippen Pracht
Ist hin und ganz vergangen;
Des blassen Todes Macht
Hat alles hingenommen,
Hat alles hingerafft,
Und daher bist du kommen
Von deines Leibes Kraft.

Nun, was du, Herr, erduldet,
Ist alles meine Last;
Ich hab’ es selbst verschuldet,
Was du getragen hast.
Schau her, hier steh’ ich Armer,
Der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad’!

Erkenne mich, mein Hüter,
Mein Hirte, nimm mich an!
Von dir, Quell’ aller Güter,
Ist mir viel Gut’s getan.
Dein Mund hat mich gelabet
Mit Milch und süßer Kost;
Dein Geist hat mich begabet
Mit mancher Himmelslust.

Ich will hier bei dir stehen,
Verachte mich doch nicht!
Von dir will ich nicht gehen,
Wenn dir dein Herze bricht;
Wenn dein Haupt wird erblassen
Im letzten Todesstoß,
Alsdann will ich dich fassen
In meinem Arm und Schoß.

Es dient zu meinen Freuden
Und kommt mir herzlich wohl,
Wenn ich in deinem Leiden,
Mein Heil, mich finden soll.
Ach, möcht’ ich, o mein Leben,
An deinem Kreuze hier
Mein Leben von mir geben,
Wie wohl geschähe mir!

Ich danke dir von Herzen,
O Jesu, liebster Freund,
Für deines Todes Schmerzen,
Da du’s so gut gemeint.
Ach gib, dass ich mich halte
Zu dir und deiner Treu’
Und, wenn ich nun erkalte,
In dir mein Ende sei!

Wann ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!

Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und lass mich sehn dein Bilde
In deiner Kreuzesnot!
Da will ich nach dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Zu den großen Reisenden zählte auch Franz Liszt. Er war im 19. Jahrhundert so etwas wie das Urbild des Jet-Setters und hat über seine Reisezeit auch Musik geschrieben, zwei Klavierzyklen, „Album d’un voyageur“ (Tagebuch eines Reisenden - 1835) und „Années pèlerinage“ (Pilgerjahre - 1855 bis 1877)

Er reiste vor allem als Pianist. Liszt war ein musikalisches Wunderkind und war bereits als Kind ständig auf Konzertreisen. Als sein Vater starb war er erst sechzehn und musste für den Unterhalt der Familie aufkommen. Das hieß wiederum Konzertreisen ohne Ende. Neben und zwischen diesen Reisen wurde er Komponist, praktisch als Autodidakt. Sein Klavierspiel ist Legende und es wird glaubhaft berichtet, dass er mit diesem mehrere Flügel in einem einzigen Konzert ruinierte, ja unter seinen Händen zusammenbrechen ließ. Das änderte sich erst, als sich Instrumente mit gusseisernem Rahmen zu verbreiten begannen. Außer Pianist und Komponist war er auch Konzertveranstalter. Er setzte sich für seine Kollegen ein, indem er den ersten deutschen Tonkünstlerverband gründete, und er war außerdem ein berühmt-berüchtigter Klavierlehrer.

»Je dämonischer gespielt wurde, um so zufriedener war er«, erinnerte sich der Schüler und Sekretär Stradal. Was Liszt nicht vertragen konnte, war, wenn jemand unvorbereitet zum Unterricht kam. Dann sagte er wohl, man solle seine Schmutzwäsche zu Hause reinigen. »Starke Techniker, die daneben musikalisch unbedeutend sind, werden von ihm geradezu malträtiert und auf ein Konservatorium... verwiesen«, versicherte Stavenhagen. Überhaupt war für ihn (wohl in bitterer Erinnerung an seine einstige Ablehnung durch Cherubini am berühmten Conservatoire de Paris) ein Konservatorium so etwas wie eine Besserungsanstalt für Unfähige, speziell »drohte« er gern mit dem Leipziger... »So spielt man nur in Leipzig, da erklärt man Ihnen, dass es eine iibermäßige Sexte ist, und bildet sich ein, das genüge; aber wie sie zu spielen ist, wird man Ihnen nie ordentlich zeigen!« Oder zu einer farblos gespielten Chopin Etüde: »In Leipzig würde man dies sehr lieb finden!«

Aber ohne Technik lief auch bei Liszt nichts, und er konnte zuweilen streng sein. Amy Fay, die als eine seiner Lieblingsschülerinnen zu glauben schien, sich Freiheiten herausnehmen zu dürfen, wollte keine Terzenläufe üben. Liszt soll sie vier Tage lang bei Brei und Milch in ein Übzimmer eingesperrt haben. Als danach die Doppelläufe nur so perlten, erhielt Amy von seiner Hand das folgende Diplom: »Fräulein Fay hat durch die Kraft des Hirsebreis und durch die Stärkung gewöhnlicher Kuhmilch eine außergewöhnliche Meisterschaft im Klavierspiel erreicht. Sie ist in der Lage, Terzengänge in hervorragender Weise auszuführen. Dies bescheinigt Franz Liszt zu Weimar.«

1852 war Franz Liszt zu Gast in Ballenstedt und initiierte und gestaltete dort ein Musikfest am 22. und 23. Juni im Schlosstheater. Auf dieses erste Fest gehen die Franz-Liszt-Musikfeste zurück, die heute im ältesten in Sachsen-Anhalt erhaltenen und bespielten Theater stattfinden.
Auch dieses Theater zeugt, ganz ähnlich wie das in Bad Lauchstädt, vom Kampf der Bürger für ihre Theater gegen dubiose Sparsamkeitsbeschlüsse der gerade Regierenden.
Nachdem Ballenstedt 1765 Residenz des Fürstentums von Anhalt-Bernburg wurde, eröffnete 1787 das Gesellschaftstheater im Schloss. Bereits 1806 wurde es wieder geschlossen, aber eine „Gesellschaft der Theaterfreunde“ bewirkte 1810 die Wiederaufnahme des Spielbetriebs.
Nach dem Tode des letzten Herzogs von Anhalt-Bernburg 1864 schloss das Theater aufs Neue, und Ballenstedter Bürger gründeten dann am 3. Januar 1889 ein Theaterkomitee, das bereits am 12. Mai desselben Jahres das Theater wieder eröffnete.
Der Kampf gegen Theaterschließungen hat sich hier zumindest gelohnt, und es ist wohl nicht das einzige, das sich von den früheren Sachsen-Anhaltiner Bürgern lernen ließe.
Zu den diesjährigen Franz-Liszt-Musiktagen im Schlosstheater Ballenstedt hat Reinhard Seehafer Lieder von Franz Liszt für Instrumentalbegleitung bearbeitetet.

„Wie singt die Lärche schön“
„Es muss ein Wunderbares sein.“
Am Ende seines „Spazierganges nach Syrakus“ und zurück landet unser Reisender Johann Gottfried Seume schließlich wieder bei seiner Mutter in Poserna bei Weißenfels. Hier im heimischen Sachsen-Anhalt wird er dann endlich in eine Kutsche verfrachtet, um seine letzte Etappe nach Leipzig fahren zu können. Seine Reisebeschreibung endet mit einem großen Lob. Aber nicht den Schönheiten Italiens, nicht dem Glanz von Musik und Kunst oder den Raffinessen der mittelmeerischen Küche gilt dieses Lob. Die letzten Sätze seiner Reisebeschreibung gelten etwas anderem, aber nicht weniger Wunderbarem:
Morgen gehe ich nach Grimme und Hohenstädt, schreibt er, und da will ich ausruhen trotz Epikurs Göttern. Mir deucht, dass ich nun einige Wochen ehrlich lungern kann. Wer in neun Monaten meistens zu Fuße eine solche Wanderung macht, schützt sich noch einige Jahre vor dem Podagra (der Gicht). Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und dass diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mitzumachen.
Bald bin ich bei Dir, und dann wollen wir plaudern; von manchem mehr als ich geschrieben habe, von manchem weniger.

Wenn Sie, liebes Publikum, jetzt Ihre „Kutschen“ besteigen, hoffen wir, dass Ihnen unsere Reisebekanntschaften Freude gemacht haben und wünschen, dass Sie auch noch plaudern mögen und vielleicht „von manchem mehr“ als wir Ihnen hier gespielt, gesungen und erzählt haben.
Wir kehren in das 1200-jährige Magdeburg zurück und verabschieden uns mit dem Allegro aus Telemanns Trompetenkonzert D-Dur.

Telemann-Trompetenkonzert