Trauerrede

Wir haben uns hier versammelt zur Trauerfeier für unsere liebe Verstorbene Liane Bornholdt, geborene Dietl.
Ich möchte die Trauerfeier mit einem Haiku meines Sohnes Georg Schumann beginnen, einen Haiku, den Liane sehr mochte.

Im herbst schau ich den
menschen auf dem friedhof nach
ob sie noch gießen

Durchblättert ist des Lebens Buch.

Durchblättert ist des Lebens Buch. Wer gibt mir Rat?
Er ist entflohn, der goldne Mai! Auf welchem Pfad?
Wohin, wohin flog der Pirol der Fröhlichkeit?
Verloren ist die Jugendzeit! Der Winter naht.


Dieses Gedicht stammt von Omar Chajjam.
Vor ca. 9 Jahrhunderten lebte er, ein iranischer Dichter, Naturwissenschaftler und Philosoph. Ich fand ein Exemplar seines 1983 bei Rütten & Loening erschienenen Buches „Durchblättert ist des Lebens Buch“ als 2002 gelöschtes Exemplar der Schulbibliothek des Wilhelm-Raabe-Gymnasiums in Magdeburg auf dem Flohmarkt. Die beiliegende Lesekarte zeigte, dass ich ein noch ungelesenes Buch in Händen hielt. Ich erzähle diese Geschichte, weil ich mir sicher bin, dass sie Liane, die eine stets neugierige Geschichtensammlerin war, gern gehört hätte. In diesem Buch aber heißt es:

Wenn hier dein Geist des Lebens Sinn erkennen könnt,
wär nach dem Tod, auch Gott zu schaun, dir wohl vergönnt.
Du, der du heut nur, dass du lebst – und sonst nichts – weißt,
was weißt du einst, wenn sich dein Geist vom Leibe trennt?

Martin Rühmann, der heute mit uns da ist, hat im letzten Jahr ein Lied geschrieben, dass wir jetzt hören werden. In ihrer Kritik für das neue stattGeflüster-Programm schrieb Liane noch im Januar, dass sie dieses Lied gern ein zweites Mal gehört hätte. Es hatte sie erreicht.

Es hat alles seine Zeit (Martin Rühmann)

„Und schlendernd
unter den Kastanien.
So Hand in Hand
Als wär man Eins.

Ich traue jedem Deiner Worte.
Da sind zwei Liebende auf einem Seil.
Es hat alles seine Zeit.“

Lieber Hans-Peter, lieber Felix, ...

Lieber Hans-Peter, lieber Felix, liebe Frau Friedrich, lieber Prof. Dietl, liebe Schwestern und Familien, liebe Verwandte – und so viele Freunde unserer lieben Verstorbenen!

Es hat alles seine Zeit. Vieles ist Martin Rühmann, als er dieses Lied schrieb, durch den Kopf gegangen. Nicht, dass er es heute und zu diesem Anlass singen würde. Es ist eines seiner meisterlichen Lieder. Liane war von ihm ganz unmittelbar angerührt worden.

„Und schlendernd
unter den Kastanien.
So Hand in Hand
Als wär man Eins.

Ich traue jedem Deiner Worte.
Da sind zwei Liebende auf einem Seil.
Es hat alles seine Zeit.“

Felix hat es so schön beschrieben, was Liane und Peter füreinander bedeuteten. Als er kam, wurde sie ruhig, sagtest du. Du hattest ein Gespür dafür, dass Peter und Liane sich einander gut taten.
Was nicht hieß, dass der junge Mann dem älteren ein Sohn sein konnte, oder ihm überhaupt grün war. Was auch nicht hieß, dass der Mann der Mutter im Sohn der Mutter den Freund fand. Da war einerseits das Faszinosum, dass da jemand war, der dem Menschen gut tat, den man liebte – der einem aber auch genau den Menschen, den man liebte, fremder machte.
Das hat gedauert, bis ihr beide euch einander annehmen konntet – und, wenn ihr es richtig seht, dann habt ihr es erst nach Lianes Tod gesehen, dass ihr auch füreinander da sein könnt. Ihr habt Euch miteinander als die erlebt, die bei aller Selbständigkeit auch ein wenig aufeinander angewiesen sind – und das freudvoll erfahren. Das ist ein großes Geschenk, dass sie Euch da hinterlassen hat. Eins, dass Euch stark machen kann.

Das ach´so leicht wie eine Feder,
im Hin und Her durch unsere Zeit,
mir war egal, wo Du gerade wandelst,
wie halt ein Kind Dir ganz vertraut.

Es hat wohl alles seine Zeit.

Ja, sagte Liane, wenn die beiden Ältesten den Abwasch erledigen und die beiden Jüngsten am frühen Abend ins Bett mussten, war ich immer mit dabei. So beschrieb sie in der ihr eigenen Art ihre Geschwisterrolle als die mittlere Tochter. Das prägte. Als die mittlere Tochter lernte sie früh, dass Vermitteln eine Aufgabe ist, der sie sich gern stellte. Vermitteln heißt ja nicht, dass man keine eigene Meinung besäße, sondern man muss sie sich gerade deshalb sehr bewusst machen, weil man eben, der eigenen Meinung gewiss, sie in unterschiedliche Verstehenswelten hinein vermitteln, also auch übersetzen muss. Naturgemäß wuchs sie so in ihre Kritikerrolle hinein. Nicht nur, das Erbe der Mutter darin übernehmend, sondern weil sie eben ihre eigene Vermittlungserfahrung gemacht hatte. Und, das werden mir ihre Kolleginnen und Kollegen zugeben müssen, eine gute Kritik ist eben immer auch eine Vermittlung zwischen Autor und Leser – oder Hörer. Manchmal vermittelte sie auch den Autor mit sich selbst. Ihr habe ich jedenfalls zu verdanken, dass ich, was ich als Tagebuchersatz sah, fortan als Gedichte betrachtete. Seit 2002 schickte ich ihr, was ich neu geschrieben hatte, gleich aus dem Entstehungsprozess. Das wird mir fehlen – bei allem Vermittelnden, was sie hatte, als Kritikerin habe ich sie geschätzt, weil sie einem nichts ersparte – im Gespräch, in der Arbeit am Text. Mit all dem, was sie da an einer geradezu Übermacht auch an Wissen und an analytischer Leistung einem angedeihen ließ, blieb sie jedoch immer auch die, die nachfragte, ob man dieses Maß an Kritik noch auszuhalten vermochte. Sie war nicht nur jemand, der meisterlich einen Text zu analysieren verstand, sondern, auch das schätzte ich sehr an ihr, sie behielt dabei ihre Fürsorglichkeit für den Menschen, dessen Werk sie gerade betrachtete. Das ist ja auch Eure Erfahrung mit ihr. Sie war ein in gutem Maße fürsorglicher Mensch.

im morgenrot
feuerwärts lodern
die sänger

sie singen von den
harmlosen stunden
nach der revolution
und dem schalen geschmack

der sich nicht ändert
lutscht man die roten
revolutionsbonbons
die sie in der manteltasche
bei sich führten

die paar grauen visionen
zur gerechtigkeit
zergehen fristlos
auf der zunge


Das war ein Gedicht, das auf diese Weise entstand.

Lieber Peter, lieber Felix, Ihr Lieben,

Ich stell´s noch in Frage
Und öffne die Tür.
Ein weit, weites Feld,
tausend Wege verführen.

Es geht um die letzten Dinge.
Felix erzählte, dass Du, lieber Peter, dich sehr darum sorgtest, die Familie zusammen zu bringen und zusammen zu halten. Da kommt jemand fremd in eine Familie und erkennt seine Aufgabe. Du, Felix, hast das auch erkannt. Wir wissen, dass deine Mutter stolz auf dich war. Das stimmte vom Grundgefühl, auch wenn ihr miteinander mitunter gründlich gegensätzlicher Meinung wart. Wenn ich es richtig sehe, habt ihr von ihr etwas aufgenommen, was zu ihr gehörte. Ich nannte es vorhin ihre Fürsorglichkeit. Die entwickelte sie ja nicht nur gegenüber Autoren, sondern auch in der Familie. Das ist ein wundersamer Teppich, auf dem man leben kann. Das wisst Ihr als Familie, das wissen auch die Freundinnen, mit denen sie lebhaften literarischen Austausch pflegte.
Für uns stand immer noch ein Gespräch aus. Sie reizte, dass ich als Theologe mit den letzten Dingen lebte. Als gebildete Frau wusste sie, dass hier für sie auch noch nicht das letzte Wort gesprochen war.
Nun müssen Sie keine Angst haben, dass ich Liane nachträglich noch in irgendeiner Art christlich vereinnahmen würde. Aber ich selbst muss natürlich für mich sagen: Ohne Glaube fühlte ich mich nicht vollständig. Das wusste sie auch. Dazu gehörte auch das Reden vom Tod.

Martin Luther hat das als Lebensrat so mitgegeben:
Im Leben sollte man sich mit dem Gedanken an den Tod beschäftigen und ihn vor sich treten heißen, solange er noch ferne ist und uns noch nicht bedrängt.


In der „Zeit“ wurde der katholische Theologe Hans Küng gefragt, was er Menschen zu sagen hätte, die nicht glauben. Er fand ein überraschendes Wort: „Wir sind nun mal auf der Welt. Vielleicht sterben wir in ein Nichts hinein, aber vielleicht auch in eine letzte Wirklichkeit, in die Realdimension Unendlichkeit, jenseits von Raum und Zeit, die Ewigkeit.
Ich bin froh, dass ich das in vernünftigem Vertrauen annehmen kann. Doch selbst wenn ich falsch läge, hätte ich vielleicht sinnvoller gelebt als einer, der sagt: Ich weiß nicht, woher ich komme und wohin ich gehe, im Grunde ist alles absurd.“

Unser Gespräch hat nicht mehr stattgefunden. Es wäre, denke ich, auch kein Glaubensgespräch geworden. Aber wir kamen beide von Büchern. Nur eben aus unterschiedlichen Kontexten. Letztlich ist auch der Kommunismus eine Buchreligion und darum nicht tot zu kriegen, obwohl er, darin unterscheidet er sich nicht von den bisherigen drei Buchreligionen, wie eben diese auch in der Geschichte seine Unschuld verloren hatte. Sie halten aber, aus unterschiedlichen Gründen, am Traum von der solidarischen Gesellschaft fest. Immer geht es auch um Glückseligkeit. Ein Begriff, den Mozart gern verwendet. Glückseligkeit aber, so sagt es Hans Küng, kommt aus der Intelligenz des Herzens, die der Intelligenz des Kopfes nicht widerspricht, sondern sie ergänzt.“ In der Musik, wie in den Künsten überhaupt, begegnen wir noch dem Klang des Unendlichen. Vielleicht kam daher ja die Lust zum, freilich immer wieder verschobenen, Gespräch. Wobei wir da keine Berührungsängste hatten. Liane kannte sehr wohl auch die sprachliche Schönheit der Psalmen im Alten Testament beispielsweise.

Da wird im Psalm 39 gesungen:

Herr, lehre mich doch,
dass es eine Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat
und ich davon muss.


Hören Sie das nicht als Drohung, sondern als Erinnerung daran, dass unser Leben endlich ist – dass wir es also nutzen mögen – letztlich: dass wir unser Leben so einrichten, dass wir uns für eine solidarische Gesellschaft engagieren. Darin besteht das Glück des Menschen. Das finden wir in der Bibel. Das finden wir bei Marx. Das finden wir bei den von ihr so geliebten russischen Autoren.

Wie sang doch Martin Rühmann?

Ich stell´s noch in Frage
Und öffne die Tür.
Ein weit, weites Feld,
tausend Wege verführen.

Und da war seit Jahren die geliebte Arbeit mit den Rossinis. Noch etwas, was wir uns teilten. Sie arbeitete mit den Rossinis, ich gehöre zum Amadeuskomplott. Zwei sehr verschiedene Herangehensweisen im Umgang mit Text und Musik. Aber zwei, die einander ergänzten. Ihr seid gerade wieder auf Tour mit Eurem neuen Programm auf der Straße der Romanik. Peter hat Euch bei der Premiere begleitet. Ein Kraftakt, zu dem man letztlich nur befähigt ist, weil man mit Freunden zusammen kommt.
Und das gehörte eben auch zu Liane. Sie verstand es, Freunde um sich zu sammeln – verstehen Sie Recht – nicht unverbindlich, wie man das heute oft macht, sondern indem sie ein Netzwerk schuf, in dem wir uns heute anlässlich der Trauerfeier alle wieder finden.

Wir sind doch alle in der Zeit.

Liebe Verwandte und liebe Freunde Lianes,


wenn man Jemandes wie Liane gedenken darf, – und dir, lieber Felix sage ich noch einmal ausdrücklich Dank dafür, dass du mir dazu die Möglichkeit gabst – bleibt man auch allen etwas schuldig. Dafür war ihr Leben zu reich, als dass man es einfach vor sich her beten könnte.
Peter erinnert sich an soviel Gemeinsames und an vieles, was er vermisst. Erst kürzlich sagte er: Und außerdem habe ich gerade wieder gemerkt, was für eine begnadete Köchin ich da verloren habe – und was für einen außergewöhnlichen Menschen. Peter, Felix, Ihr werdet ganz viele solcher kleinen Entdeckungen noch machen. Ihr werdet über das Jahr sehen, wie sehr sie fehlt. Ich denke, ich spreche nicht nur für mich, wenn ich sage: Ihr habt unsere Telefonnummern. Ihr wisst, dass wir da sind, wenn Euch die Decke auf den Kopf fällt.

Aber ich möchte uns nun zusammen etwas ermöglichen, was bei nichtchristlichen Trauerfeiern eher ungewöhnlich ist.
Martin Rühmann hat ein Lied mitgebracht, was wir mit Ihnen gemeinsam singen wollen, Der Text ist von Eva Strittmatter. Es ist ein Lied mit und gegen den Tod. Sie kennen die Figuren und die Himmel Chagalls. Die zarte und doch überbordende Fantasie, die die Welten ineinander überfließen lässt.
Eva Strittmatter hat in unvergleichlich poetischer Sprache erspürt, dass die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, aus dem Ineinanderfließen der verschiedenen Weltwirklichkeiten stammt. Sie hat mit ihren Worten Chagall, den großen bildschaffenden Poeten des Lebens, gemalt.
Lassen Sie uns dieses Lied jetzt miteinander singen.

CHAGALL

Alles kann man, was man will.
Und man kann die Welt besiegen.
Wenn man eine Liebe hat,
Kann man über Witebsk fliegen.
Man bemalt sich einen Schimmel
Mit zwei Rosen. Und hinauf
Springt man in den grünen Himmel.
Und der Himmel ist schon auf.
Man holt sich Musik herunter,
Die in einer Geige wartet.
Die ist oben, die ist unten.
Rot und grün. Und so geartet,
Dass auch Fische fliegen müssen.
Und am Ende will die Zeit
Nichts mehr von den Uhren wissen.
Und der Tod ist noch sehr weit.

Schlussvers

das weiß der pappel
überzieht das juniland
aussat der trauer

als freue er sich
liegt der stein unter dem baum
und bietet mir platz